Dass Pferde tierische gute Therapeuten sind, weiß Anja Wilcke seit Jahren. In Sachsen bietet die 47-Jährige mit ihren Partnern auf vier Hufen neben Coaching und Reittherapie auch eine ganz besondere Begleitung an – für Trauernde. pferde.de sprach mit ihr über diese ganz besondere Arbeit und warum Pferde trauernde Herzen öffnen…
Wenn trauernde Menschen zu Anja Wilcke kommen, dann haben sie eine Hoffnung: Sie möchten einen Weg aus dem Schmerz finden. Und das gelingt der 47-Jährigen tierisch gut – mit Hilfe von Pferden. „Sie sind unglaublich gute Trauerbegleiter“, sagt Wilcke. „Denn sie geben Wärme, sind Stütze – und schaffen einen wohltuenden Raum, um das Erlebte verarbeiten zu können.“
Was so einfach klingt, fehlt vielen Trauernden jedoch im Alltag. „Wer zu mir kommt, trauert oft schon ein Jahr lang. Diese Menschen kommen nicht mehr raus aus ihrer Schmerz- und Trauerspirale. Die Pferde helfen ihnen, den Bezug zu sich selbst wieder herzustellen. Und sie helfen ihnen, den Schmerz zu fühlen – und damit auch rauszulassen.“
Schon als Kind das totale Pferdemädchen
Wie sehr Pferde die Seele berühren können, weiß Wilcke aus eigener Erfahrung. „Ich war schon als Kind das totale Pferdemädchen“, sagt sie lachend. „Aber damals war es nicht so einfach. Ich habe trotzdem meine Eltern so lange genervt, bis sie mich zum Voltigieren gebracht haben.“ Da war sie in der 1. Klasse – „und ich habe jede freie Minute bei den Pferden verbracht.“

Wilcke lernte reiten, fühlte sich bei den Pferden immer sicher. „Später sind wir dann umgezogen.“ In der Stadt gab es kaum Pferde. Es folgte eine Ausbildung, dann das Studium zur Kommunikationsdesignerin. Sie heiratete, bekam ihr erstes Kind. „Pferde waren zu dieser Zeit zwar immer noch mein Mädchentraum. Aber eben genau das – ein Traum.“
Doch ausgerechnet ihre Tochter brachte sie zurück in den Stall. „Sie hat das Pferde-Gen geerbt“, so Wilcke lachend. Und die Geschichte wiederholte sich. „Als sie in die Grundschule kam, haben wir eine Möglichkeit für sie gesucht, wo sie Reiten lernen konnte.“
Quarter Horse Nic hat die Familie geerdet
In dem Stall verliebt sich ihre Tochter vor allem in Nic, einen Quarter-Horse-Wallach. „Er sollte plötzlich verkauft werden. Also haben wir ihn Hals über Kopf gekauft.“ Worauf sie sich eingelassen hatte, war Wilcke in dem Moment nicht klar. „Nic war ein klassisches Schulpferd. Er schien immer brav, aber in Wirklichkeit ließ er einfach alles über sich ergehen. Er hatte sich aufgegeben.“
Die Familie spürte, dass es ihm nicht gut ging. „Wir haben ihm dann erst einmal ganz viel Zeit gegeben. Wir sind mit ihm spazieren gegangen, haben ihn entscheiden lassen, was wir machen. Und wir sind auf gebissloses Reiten umgestiegen.“
Ganz langsam öffnete Nic sich, wurde lebhafter, entspannter. Er spürte, dass er ein zweites Leben geschenkt bekam. „Und er hat uns von Anfang an so viel zurückgegeben“, sagt Wilcke. „Mein Mann und ich haben damals festgestellt, wie wohltuend das Pferd ist. Nic hat uns geerdet, das Hier und Jetzt spüren lassen.“

Beim Coaching geht es oft auch um Trauer, so Wilcke
Wilcke ist überzeugt: „Das kann auch anderen Menschen guttun. Deshalb habe ich eine Ausbildung zum Pferdegestützten Coach und Life-Coach gemacht.“ Mit ihrer Schwester machte sie sich Mitte 2018 selbstständig. „Wir haben vor allem im Businessbereich gecoacht, hatten viele Firmen bei uns.“ Doch dann kam Corona „und von einem Tag auf den anderen lag alles brach“.
Ihre Schwester stieg damals aus. Doch Wilcke wollte ihren Traum nicht aufgeben. Sie arbeitete weiterhin als selbstständige Grafikdesignerin und wartete auf ihre zweite Chance. Als die strengen Corona-Maßnahmen gelockert wurden, startete sie wieder durch.
„Ich habe dann vor allem Einzel-Coachings gegeben. Dabei zeigte sich, dass es meist ein Thema hinter dem Thema gab. Und das war ganz oft eine unbearbeitete Trauer – weil ein geliebter Mensch gestorben war, eine Beziehung zerbrochen war oder die Kinder zuhause ausgezogen sind. Trauer hat viele Facetten. Auch der Ausstieg aus dem Berufsleben kann ein Schritt sein, bei dem Menschen in eine Trauer verfallen.“
Anja Wilcke wird Trauerbegleiterin mit Pferd
Durch diese Erfahrung beschloss sie, noch eine Ausbildung zu machen – als Trauerbegleiterin mit Pferd. Immer an ihrer Seite: Nic, mittlerweile 20 Jahre alt. „Er ist unsere souveräne ‚Führungskraft‘, regelt das harmonische Zusammenleben und die Ordnung in der kleinen fünfköpfigen Herde.“ Zu ihr gehört auch Charly, 10 Jahre und ein Huzulen-Pony-Mix. „Er ist der Fels in der Brandung. Ihn kann so schnell nichts erschüttern.“
Enzo, ein schweres Warmblut, ist mit seinen 8 Jahren das „Nachwuchstalent. Er hat unbändige Freude daran, Neues zu entdecken und sich auszuprobieren.“ Elvis ist 6 – „frech, mutig und neugierig“. Auch der neuste Zugang, Miro, ein dreijähriger Lewitzer-Hengst, begleitet schon mit. „Er ist total lieb und erobert alle Herzen im Sturm.“

Jede Trauerbegleitung ist individuell, denn auch Trauer ist individuell. „Wer sich traut, kann auf die Weide zu den Pferden gehen und sich dort auf einen Stuhl setzen“, so Anja Wilcke. Dann passiert das, was sie jedes Mal berührt: „Die Pferde kommen näher, suchen behutsam und vorsichtig Kontakt, und entscheiden selbst, wer die Aufgabe diesmal übernimmt.“
Wilcke schmunzelt: „Und das sieht hin und wieder anders aus, als ich selbst gedacht hätte.“ Wie bei einer trauernden Frau, die bei ihr war. „Ich war mir sicher, dass Nic wunderbar zu ihr passt. Als sie dann auf der Weide saß, kamen alle Pferde nacheinander zu ihr – auch Nic, aber er ging wieder. Stattdessen fühlten sich Elvis und Miro berufen und blieben ganz, ganz nahe bei ihr. Für die Frau war das sehr wichtig und bewegend, denn diese wohltuende Nähe fehlte ihr oft im Alltag.“
Trauer kommt durch Pferde in Fluss
Wenn sich Pferd und Mensch gefunden haben, beginnt die eigentliche Trauerbegleitung. „Was wir machen, richtet sich danach, an welchem Punkt die Trauernden gerade stehen und was sie brauchen.“ Für einige ist Nähe besonders wichtig. „Wir stehen dann gemeinsam neben dem Pferd. Der Trauernde legt die Hände aufs Fell, spürt die Wärme und den Atem des Pferdes. Das Pferd ist dabei die stabile Stütze. Ich bitte die Trauernden, im Rhythmus des Pferdes zu atmen.“
Was dann geschieht? Die Pferde öffnen die trauernden Herzen. „Sie können loslassen – und dann fließen die Tränen.“ Genau das braucht es ganz oft. „Die Trauer kommt in Fluss. Die Trauernden fühlen die Wärme, das Leben und sich selbst als Teil davon. Sie kommen wieder ins Fühlen und können Kraft und Zuversicht schöpfen aus diesen einzigartigen Momenten der Begegnung und Verbindung mit dem Pferd. “
Andere haben das Gefühl, dass sie noch immer ganz am Anfang ihrer Trauer stehen. „Sie bauen mit Pylonen „ihren Weg“ in der Halle auf. Zusammen mit einem Pferd als Begleiter und Stütze gehen sie diesen und werden sich ihrer Schritte dadurch bewusst. Oft sind die Trauernden überrascht, wie weit sie schon gegangen sind und welche Hürden sie bereits gemeistert haben. Das macht Mut und gibt eine neue Perspektive für ihren weiteren Weg.

Pferde schaffen Raum – ohne Erwartungen
Oftmals haben Trauernde das Gefühl, dass es noch Dinge gibt, die nicht gesagt wurden. Das belastet sie sehr. „Sie schreiben einen Brief. Wenn sie es können, setzten sie sich dann zur Herde und lesen den Brief den Pferden vor. So lassen sie ihre Gedanken und Gefühle raus, das nimmt viel Druck. Die Pferde hören ihnen einfach zu. Sie beurteilen nicht, sie kritisieren nicht. Sie sind einfach da. Für viele ist das eine erleichternde und wohltuende Erfahrung, denn oft wissen sie nicht mehr, mit wem sie reden können, weil sie niemanden belasten wollen.“
In diesen Momenten sind Pferde so wertvoll. „Sie schaffen einen Raum, haben aber keine Erwartungen.“ Und sie zeigen ganz oft, was den Trauernden hilft. „Eine Frau war bei mir, die um ihre geliebte Labradorhündin trauerte. Gemeinsam waren die beiden durch dick und dünn gegangen und jetzt, wo sie nicht mehr da war, fühlte sie sich sehr einsam und allein.“ Nachdem die Frau die Pferde begrüßt hatte, entschied sie sich dafür, mit Nic ihren Weg zu gehen. Runde um Runde gingen die beiden mit gesenktem Blick in der Halle, bis Nic die Frau sanft an die Hand stupste und unvermittelt stehen blieb. Die Frau blieb stehen, sah Nic an und ihr Blick wandelte sich.
Für Wilcke sind die Pferde auch Familienmitglieder
Mit Tränen in den Augen löste sie den Strick und strich Nic liebevoll über das Fell. Sie lächelte und erzählte nach der Übung, dass sie sich durch Nic wunderbar unterstützt gefühlt habe und ein Gedanke bei ihr auftauchte: „Du bist nicht allein, gemeinsam schaffen wir das – es ist alles gut so, wie es ist.“ Durch das Anstupsen und Stehenbleiben des Pferdes kam sie zur Erkenntnis, dass es nicht den einen perfekten Moment gibt, um ihre Hündin gehen zu lassen, sondern jeder Moment perfekt dafür sein kann und sie nicht alleine ist.
Das ist es, was die Arbeit mit den Pferden so einzigartig und wertvoll macht: „Sie geben Raum und Impulse und halten wunderbar die Stille aus. Sie gehen mit dir den Weg und bleiben bei dir – auch wenn es schwer wird und du weinst.“

Für Wilcke sind ihre Pferde die besten Mitarbeiter – aber auch Familienmitglieder. „Ich bin da sehr mütterlich unterwegs“, so Wilcke lachend. „Ich achte darauf, dass es ihnen immer gut geht.“ Ihre Pferde leben im Offenstall, genießen das Leben als Herde. „Dazu sorgen wir für viel Abwechslung. Wir reiten sie, gehen spazieren, machen Bodenarbeit oder auch Zirkuslektionen. Jeder bekommt genau das, was er braucht.“
Pferde helfen, die eigene Stärke zu finden
Neben der Trauerbegleitung helfen Nic und seine tierischen Kollegen auch bei der Reittherapie mit. „Ich habe Klienten mit verschiedenen Handicaps.“ Auch Stressabbau am Pferd bietet Wilcke an. „Und unsere Pferde helfen unseren Klienten auch dabei herauszufinden, welche Stärken sie haben.“
Aber vor allem liegt ihr die Trauerbegleitung mit Pferd am Herzen. „Ich wünsche mir, dass dieses Angebot bekannter wird. Ich sehe die Trauerbegleitung mit den Pferden auch als wunderbare Ergänzung zu Trauer-Cafés und Selbsthilfegruppen, oder Begleitungsangeboten für Kinder und Jugendliche. Denn manchmal braucht es einen besonderen oder ganz individuellen Anstoß, um seine Trauer auf den Weg zu bringen.“
Am 26. Oktober bietet Anja Wilcke von 10 bis 13 Uhr einen „Tag der offenen Trauer“ auf ihrem Gut Stockborn in Burkau an. „Da sind nicht nur Betroffene, sondern auch Begleitende Berufsgruppen – zum Beispiel Hospiz-Mitarbeiter – herzlich willkommen.“ Ihnen möchte sie zeigen, dass „Pferde Herzöffner sind, der Schlüssel zu den trauernden Seelen“.
Wilcke überlegt kurz: „Pferde tun so viel Gutes und leisten so viel für uns Menschen. Sie sind ein Geschenk, dass wir jeden Tag aufs Neue bekommen und annehmen dürfen.“








